Was ist eigentlich typisch Berlin?

Was ist eigentlich typisch Berlin | Motiv alter Kaugummi-Automat

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Ein kleiner Ausflug in die Psyche der Berliner Kreativen.

Berlin, das ist keine einheitliche monolithische Stadt. Berlin, das sind viele Städte. In Berlin steckt ein bisschen München, ein bisschen Oberhausen, ein Stück Kiel und eine kleine Ecke Heidelberg. Berlin kann urban sein. Aber wer einmal in Mariendorf war, der wird Berlin nicht unbedingt mit Urbanität verbinden. Berlin das ist Avantgarde und Spießertum, Innovation und Provinzialität, Vielfalt und Einfalt in einem. Berlin ist dreckig, roh, überraschend, verschnarcht, zurückgeblieben, verrückt, unverschämt, bunt, fröhlich, miesepetrig, nervenzerfetzend und gähnend langweilig. Und alles gleichzeitig und parallel. Das macht Berlin so besonders. Auch für Kreative.

Kleine Schwänze, dicke Hosen.

Niemand kann die Klappe soweit aufreißen wie ein zugezogener Berliner aus Schwaben mit nicht ganz auskurierten süddeutschen Akzent. Die Berliner, oder die die sich für Berliner halten, gehören zu den lautesten, um zu sagen vorlautesten, Vertretern oder Vertreterinnen einer lärmenden Gruppe sich vollkommen überschätzender Kreativkasper, die jeden kleinen Furz für wirkmächtigen Kreativzauber halten. Das Besondere an Berlin sind keine Spätis, Schrippen, Pfannkuchen, Berliner Weißen, Mitternachtsclubs oder Partyszenen. Das Besondere sind die vielen parallelen Welten, in die man in Berlin eintauchen kann. Das Berghain hat nichts mit dem Far Out, die Trompete nichts mit dem Havanna Berlin gemeinsam. Es gibt in Berlin einfach keine fest umrissenen Viertel. Keine Innenstadt, kein Rotlichtviertel, keine Hafenbars, keine festen Regeln. Alles fließt und alles fließt ineinander.
Hier Kultur, dort Sex, hier Kommerz, dort Lyrik, hier Revolution dort Gentrifizierung. Alles gibt es neben-, über-, unter- oder aufeinander. Und je kleiner die Schwänze sind, desto dicker fallen die Hosen aus. Weshalb Berlin das Paradies für Aufschneider, hausgemachte Propheten und kümmerliche Kreativperformances ist.

Die Hauptstadt der Hauptstadt der Hauptstadt.

So großmäulig Berlin vielfach auftritt so unterentwickelt ist sein Selbstbewusstsein. Ständig muss ich die Stadt in dröhnender Lautstärke davon überzeugen, dass sie eine Weltstadt mit hochkarätigem Angebot ist. Weshalb jede Mücke in Berlin das Zeug zu einem ausgewachsenen Elefanten hat. Der wiederum den Marsch durch den Porzellanladen als Lieblingsbeschäftigung erkoren hat. Es scheppert, es kracht, es klirrt und es splittert. Det is Balin! Berlin ist die Hauptstadt. Nur von was? Kultur? Kunst? Politik? Gesellschaftskritik? Trends? Sport? Kulinarik? Auch hier ist Berlin von allem ein bisschen und von nichts richtig. Ein Eintopf mit Zutaten aus aller Damen und Herren Länder. Gut durchgerührt köchelt hier alles vor sich hin. Und wenn man das Ganze nicht schnellstes vom Herd nimmt, wird daraus eine komplett verbrannte, wenig schmackhafte und vollkommen unverdauliche Zwischenmahlzeit, die einem noch lange im Magen liegt.

Scheiß auf die Innenstadt. Es lebe der Kiez.

In Berlin gibt es nicht die eine Innenstadt. Es gibt einzelne Kieze. Und jeder ist vom anderen grundverschieden. Deshalb gibt es auch keine Berliner Identität. Welche sollte das auch sein? Es gibt Kreuzberger, Charlottenburger, Spandauer, Pankower, Karlshorster, Köpenicker, Tempelhofer, Wilmersdorfer, Zehlendorfer. Und keiner gleicht dem anderen. Oder gibt es hier jemanden, der ernsthaft Wilmersdorfer Witwen und coole Prenzlberger in einen einzigen Berliner Eintopf werden will? Wir als Berliner Kreative sind also von Bezirk zu Bezirk auf der Suche nach unserem wahren Ich. Aber das will sich einfach nicht zeigen.
Also improvisieren wir und machen aus der Not eine Tugend. Wir haben nichts, woran wir uns festhalten können also balancieren wir freihändig. Was immer wieder dazu führt, dass aus Berlin die genialsten aber auch die beklopptesten kreativen Idee kommen. Gedanken, von denen man woanders schön die Finger lassen würde, werden in Berlin mit Wonne bis ins
Absurde hinein überspitzt und nachgeschärft. Richtig, dabei kann man sich böse schneiden. Aber alle paar Lichtjahre kommt man auch zu besonderen Ergebnissen. Auch wenn sie nie so besonders sind, wie die BerlinerInnen es gerne postulieren.

Tanzen auf der Rasierklinge.

Der Tanz auf der Rasierklinge ist eines der liebsten Hobbies der Berliner Kreativszene. Und was die BerlinerInnen selber frenetisch bejubeln, wird in anderen Teilen der Republik mit sorgenvollem Kopfschütteln kommentiert. Vor allem wenn gut gedacht mal wieder das Gegenteil von gut gemacht ist. Berlin hat Inspiration, Impulse, Vielfalt und totales Chaos, aber was der Stadt komplett abgeht: Professionalität. Ein einziger Besuch im Berliner Flughafen kuriert alle Berlinerinnen und Berliner von ihrer Hybris die Bewohner einer der großartigsten Städte der Welt zu sein. Ein kümmerlicheres Zeugnis planerischen Versagens wird es auch in Jahrhunderten nicht geben. Die Planer das haben den Tanz auf der Rasierklinge nicht überstanden. Und so geht es uns Berliner Kreativen manchmal auch. Das einzige was es uns ermöglicht, professionelle Arbeit in Berlin zu machen, ist genügend Abstand zu Berlin zu halten. Wir schwören auf Disziplin, Fleiß, Durchhaltevermögen und akribische Planung. Alles keine typisch Berlinischen Disziplinen. Und genau deshalb für uns Kreative hier in Berlin absolut überlebenswichtig.

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