Warum mir als Texter inzwischen oft die Worte fehlen, obwohl ich keinesfalls sprachlos bin.
Ja, es stimmt. Als kreative Werbeagentur in Berlin steht lawinenstift manchmal vor einem ziemlichen Dilemma. Denn vor Corona waren wir gerne Querdenker und heute? Ich zitiere hier der Einfachheit halber mal Wikipedia: „Laterales Denken (von lateinisch latus „Seite“), auch Querdenken genannt ist eine Denkmethode, die im Rahmen der Anwendung von Kreativitätstechniken zur Lösung von Problemen oder Ideenfindung eingesetzt werden kann. Und hier noch mal die Bedeutung laut Duden: unkonventionell, originell denken
Da haben wir als Agentur immer wieder gerne quer gedacht und waren auch ganz erfolgreich damit: Und jetzt müssen wir den Begriff aus allen unseren Texten löschen.
Geben wir es ruhig zu: Wir bei lawinenstift denken quer. Wir sind Querdenkende. Denn wir müssen lateral und originell denken. Wir sehen Querdenken als eine sehr positive Eigenschaft, die es uns ermöglicht, ungewöhnliche und außerordentliche Ergebnisse zu erzielen. Und die Art des Denkens wollen wir auch beibehalten. Aber was machen wir bloß mit dem Begriff „Querdenker“? Sortieren wir den jetzt aus, wie ein paar alte löcherige Socken? Und was sagen wir stattdessen? Lateraldenker? Out-of-the-Box-Denker? Schrägdenker? Oder klemmen wir uns jetzt das Denken, weil irgendwelche Gruppen oder Extremdenker den Begriff „Denken“ zunehmend diskreditieren?
Spielen wir das Ganze doch mal durch. Was passiert mit unseren Texten, wenn wir bestimmte Wörter nicht mehr benutzen wollen? Dürfen Bürger in Zukunft noch wütend sein? Oder sind sie dann „Wutbürger“? Machen wir in Zukunft noch Spaziergänge? Oder brauchen wir dafür auch einen anderen Begriff? Flaniergänge? Schlendergänge? Ich-geh-dann-mal-raus-Gänge? Wir alle räumen der Freiheit einen hohen Stellenwert ein. Insbesondere der Meinungsfreiheit. Aber müssen wir in unseren Texten Wörter wie Freiheit bzw. Meinungsfreiheit so vorsichtig umsegeln, wie ein Fregattenkapitän felsige Klippen? Denn Auflaufen kann man heute extrem schnell. Und mir als Texter fällt beim besten Willen kein gleichwertiges Wort für den Begriff „Freiheit“ ein. Denn die Abwesenheit von Zwang ist noch lange nicht gleichbedeutend mit Freiheit.
10 Begriffe, deren Konnotation sich in der gesellschaftlichen Debatte verschoben hat.
- Querdenker: Waren ursprünglich Menschen, die über den Tellerrand geblickt und außerhalb eingefahrener Wege originelle Lösungen gedacht und uns alle damit sehr viel weiter gebracht haben. Heute steht der Begriff für Extremisten oder Verblendete, weil sich eine bestimmte Gruppe diesen Begriff angeeignet hat.
- Spaziergänge: Sind ganz aktuell zu einem Synonym für Anti- Corona-Demos geworden. Standen früher für Erholung und Entspannung; jetzt eher für Stress, Aufruhr und Krawall.
- Besorgte Bürger: Waren früher Menschen, die sich positiv ins Gemeinwesen eingebracht haben; heute werden damit Menschen etikettiert, die in den Augen vieler wenigstens dumm und naiv oder schlimmer noch verbohrt und bösartig sind.
- (Alte) Weiße Männer: War früher eine sachliche Beschreibung, weist heute aber auf ewig gestrige Männer hin, die ihre Macht nicht teilen wollen.
- Gute Menschen (Gutmenschen): Gute Menschen waren früher einfach gute Menschen, die Gutes wollten und Gutes schufen. Heute gelten „gute Menschen“ oder „Gutmenschen“ als politisch naiv und nicht alltagstauglich.
- Liberale: Ursprünglich mal Menschen, die Toleranz und Debattenkultur gepflegt haben. Heute in den Augen mancher Hardliner Trottel, die unser Land vor die Wand fahren.
- Skeptiker: Früher war man als Skeptiker in bester Gesellschaft und diese Geisteshaltung war durchaus angesehen. Heute sind Skeptiker durch den Begriff der „Impfskeptiker“ schon nicht mehr so beliebt. Sie stehen im Verdacht, sich unsolidarisch zu verhalten.
- Impfung: Früher eigentlich durch und durch positiv besetzt, bis auf wenige Ausnahmen. Heute gilt die Impfung vielen als Anschlag auf ihre Freiheit, wozu sicher auch die Debatte um die Impflicht beigetragen hat.
- Ungeimpfte: Vor Corona die sachliche Beschreibung des Umstandes, dass man gegen bestimmte Krankheiten nicht geimpft war. Heute, nach zwei Jahren Corona, gelten Umgeimpfte vielen als asozial.
- Rasse: Vormals die schlichte Beschreibung einer Ethnie. Heute hat der Begriff seine wissenschaftlichen Weihen verloren. Es gibt ja keine Rassen mehr. Leider hat man bisher keinen unverdächtigen Ersatzbegriff gefunden, weshalb der Begriff immer noch im Grundgesetz steht. Ärgerlicher Weise macht das Wort „rassistisch“ ohne den Bezug auf das Wort „Rasse“ auch keinen Sinn. Also werden wir die Rasse wohl so schnell nicht los.
Also bitte, bitte liebe Aktivist:Innen und Aktivisten, Moralist:Innen und Moralisten, habt Nachsicht mit uns Schreiber:Innen und Schreibern, die wir in unseren Texten mit Worten malen und Bilder im Kopf entstehen lassen. Schlagt uns nicht die Pinsel und Farben aus der Hand, Texte schreiben ist auch so schon schwer genug. Das weiß jeder, der schon mal vor einem weißen Blatt Papier gesessen und um die richtige Formulierung gerungen hat. Wenn man immer mehr Worte ächtet und man kaum noch einen Begriff unbefangen benutzen darf, wird das die Qualität unserer Texte massiv beeinflussen. Leider nicht zum Besseren.
lawinenstift ist eindeutig für einen sensiblen Umgang mit der Sprache. Wir wissen, das Worte Waffen sein können. Also sind wir strikt dagegen, andere Menschen zu verletzen. Womit auch immer. Aber wir wollen uns auch in Zukunft noch differenziert und farbig ausdrücken können in unserer Sprache. Also plädieren wir für ein beherztes Engagement zugunsten unserer Mitmenschen und einen freundlichen und vertrauensvollen Umgang miteinander. Aber gleichzeitig glauben wir, dass ein bisschen mehr Souveränität und Gelassenheit uns im Umgang mit unserer schönen Muttersprache gut anstehen.
Es gibt bereits verbindliche Regeln für den Umgang mit Worten. Und natürlich kann man Regeln ändern. Aber nicht jede Gruppe für sich.
Es wird schwierig, sich zu verständigen, wenn wir kein gemeinsames Verständnis unserer Sprache haben. Deshalb ist es ziemlich fatal, wenn jede politische Splittergruppe ihr eigenes Wörterbuch zusammenstellt. Ich gehe jetzt davon aus, dass man sich nach wie vor mit seinem Gegenüber verständigen will. Verstehen, Verständnis, Vertrauen – all das verlangt nach einem gemeinsamen Wortschatz, der ohne versteckte Konnotationen auskommt. Lassen wir gute Menschen einfach gute Menschen sein und diffamieren wir sie nicht als „Gutmenschen“ (also als Synonym für „Trottel“).
Nehmen wir Spaziergänge als entspanntes Flanieren und nicht als getarnte Umsturzversuche. Sprache soll verbinden, nicht spalten. Sie soll Vertrauen aufbauen und nicht verletzen. Und – das ist ganz wichtig – sie soll Spaß machen. S-P-A-S-S ! Der Spaß allerdings geht verloren, wenn jeder geschriebene Satz zu einem unberechenbaren Minenfeld wird. Da bin ich jetzt mal als Texter ganz egoistisch. Ich wünsche mir für meine Kolleginnen und Kollegen und mich so viel gestalterische Freiheit, dass wir auch morgen noch mitreißende Texte schreiben können. Und dürfen. Denn wie sagte schon der gute Martin Luther: „Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz.“
Ich habe einen Traum. Einen Albtraum.
Stellen Sie sich vor, ein älterer Herr (Mitte 40) betritt einen Supermarkt und fragt die Verkäufer:Innen: „Ich möchte mit meiner Familie, wobei ich den Begriff Familie bitte nicht als das traditionelle Rollenbild von Vater, Mutter, Kind verstanden wissen will, den Geburtstag meiner Tochter, die sich natürlich jetzt noch nicht auf ihr Geschlecht festgelegt hat, sondern dieses später frei wählen wird, feiern und wollte wissen, wo ich – bitte verstehen Sie das nicht falsch – ein Kostüm der indigenen Ureinwohner finden kann, wobei ich natürlich weiß, dass dies eine unzulässige Form der Kulturaneignung ist. Übrigens möglichst eins mit einer großen – äh, wie soll ich sagen – Indianerhaube (entschuldigen Sie bitte, ich bin eben ein alter weißer Mann.)“ Und die Verkäuferin antwortet barsch: „Wat, Indianerkostüme. Führen wir nicht mehr. Sie Rassist. In welchem Jahrhundert leben Sie eigentlich.“ Woraufhin der alte weiße Mann (Mitte 40) nach Hause schleicht und seiner Tochter erklären muss, dass das mit dem Indianerkostüm zu ihrem Geburtstag nichts wird und sie sich heftig schluchzend in die Ecke verzieht. Zugegeben: Alles maßlos übertrieben. Aber es war eben ein Albtraum. Und Albträume neigen immer ein bisschen zur Übertreibung. Werbetexter übrigens auch!